Sternstunde

Am Motukiekie Beach an der Westküste der Südinsel Neuseelands – dort, wo die hohen Wellen der Tasmansee mit wilder Kraft gegen die zerklüftete Küste mit ihren Felsnadeln branden – sitzt ein einzelner Riffseestern, Stichaster australis, von den Māori Pātangaroa genannt, auf einem von Wasser und endlos viel Zeit rundgeschliffenen Fels. Die tiefe Abenddämmerung taucht die Landschaft in zauberhaftes Licht: eine innige Verbindung von Ozean, Atmosphäre und Leben. Die entfernten Brandungspfeiler dieses außergewöhnlichen Küstenabschnitts sind geologische Monumente der ständigen Auseinandersetzung zwischen Wind, Wellen und wandernden Erdplatten.

Diese Riffseesterne gehören zu den Sonnensternen und sind mit ihren zehn bis zwölf Armen beeindruckende Lebewesen, die eine uralte Präsenz ausstrahlen: Sie gehören zur Klasse der Asteroidea, einer evolutionär sehr alten Gruppe, deren Vorfahren schon vor etwa 400 Millionen Jahren die Weltmeere bevölkerten. In den Tidenbecken und Felsplattformen von Motukiekie findet Stichaster australis perfekte Bedingungen: reichlich Beute wie Seeigel und Seepocken, kühles, nährstoffreiches Wasser und die ständige Erneuerung des Lebensraums durch die starke Gezeitenenergie. Seine Präsenz erzählt von ökologischer Beständigkeit in einer Umgebung, die geologisch alles andere als stabil ist.

Denn diese Küste liegt im Wirkungsbereich einer der bedeutendsten tektonischen Strukturen der Erde: die Alpine Verwerfung, einer mächtigen Transformstörung, die die Südinsel Neuseelands nahezu in Nord-Süd-Richtung durchschneidet. Hier gleiten die Pazifische und die Australische Platte mit drei bis vier Zentimetern pro Jahr aneinander vorbei wie zwei gigantische Puzzleteile. Gleichzeitig gibt es eine vertikale Hebungskomponente von bis zu einem Zentimeter jährlich, was zur Bildung und weiteren Hebung der Südalpen beiträgt. Mit jeder ruckartigen Verschiebung, die sich in starken Erdbeben äußert, wird das Land weiter zerrissen, verformt und umgestaltet.

Die dramatische Steilküste von Motukiekie ist ein sichtbares Echo dieser tektonischen Spannungen: Hebung, Erosion und Versatz formen ein Landschaftsmosaik, das sich über Jahrmillionen sowohl in kriechend langsamen als auch in ruckhaften Schritten verändert. Während hier die Erdkruste aneinander vorbeigleitet, brandet das Meer unermüdlich an die sich wandelnde Küste – und irgendwo dazwischen hält sich dieser Seestern an seinem Felsen fest, unbeirrt von den Kräften, die die Welt im Innersten bewegen.

Vielleicht liegt gerade in dieser Kombination die erhabene Schönheit dieser Szenerie: Ein Wesen, dessen Abstammungslinie älter ist als die Landschaft, lebt in vollkommener Symbiose mit seiner sich pausenlos verändernden Umgebung. Ein Stern, der nicht am Himmel steht, sondern auf einem Stein wohnt – und uns daran erinnert, dass Wandel und Beständigkeit zwei Seiten derselben Geschichte sind.

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