Die Baumkathedrale

Bis vor 10.000 Jahren lag der Norden Deutschlands am Eisrand des nordischen Inlandeises. Zu dieser Zeit des Pleistozäns war derart viel Wasser in Form von Eis in den bis zu drei Kilometer mächtigen Eisschilden des Nordens gebunden, dass der Meeresspiegel etwa 130 Meter unter dem heutigen Niveau lag. Dadurch fiel die Nordsee trocken und die Ostsee wich dem dicken Eispanzer. Das skandinavische Inlandeis reichte bis nach Hamburg und Berlin. Im Süden grenzte die Vergletscherung der Alpen bis in das Gebiet Münchens.

Der Rest von Deutschland war entweder von subarktischer Tundra oder kleinwüchsigem Strauchgehölz bedeckt. Zu letzteren gehören die Zwergbirken und Polarweiden. Die Höhenzüge der Mittelgebirge waren schnee- und eisbedeckt. Zu den auffälligsten Tieren der Eiszeit gehörten die Mammuts, Höhlenbären und Säbelzahntiger. Menschen durchstreiften das Gelände als Jäger und Sammler.

Während der Kaltzeiten zogen sich die mitteleuropäischen Wälder in den Mittelmeerraum zurück und begannen ihre Rückeroberung des europäischen Verbreitungsgebietes vor etwa 10.000 Jahren. Mit dem Rückzug der Eismassen in Richtung Skandinavien und die zentralen Alpen begann das Zeitalter des Holozäns. Während sich die Tundra immer weiter nach Norden zurückzog, bildeten sich in der hügeligen norddeutschen Moränenlandschaft mit ihren Schmelzwasserströmen, Sanden, Geröllen und Findlingen zahlreiche Seen.

Die ersten Pionierbäume dieser Landschaft waren die Bergkiefern, gefolgt von Birken, Weiden und Haselsträuchern. Mit weiter steigenden Temperaturen und dem notwendigen Regen mischten sich zunehmend Eichen, Linden und Ulmen unter den Baumbestand. Vor etwa 9.000 Jahren bedeckten weite Eichenwälder das Land und mit dem Einwandern der Buchen und Tannen begann die endgültige Konkurrenz der Bäume um das Sonnenlicht. So wurden aus zunächst lichten Eichenwäldern vor etwa 6.000 Jahren dichte Buchenwälder.

Dies wirft die Frage auf, wie schnell Bäume laufen können. Ob und wie schnell sich Wälder mit welcher Baumvergesellschaftung etablieren können, hängt nämlich nicht nur empfindlich an der mittleren Jahrestemperatur und der Niederschlagsmenge, sondern auch an deren Extremwerten. Wichtiger noch als der Regen selbst, ist die Differenz aus dem Regen und der Verdunstung. Dieser Wert steuert die verfügbare Wasserbilanz und damit die Bodenfeuchte. Erst als der wärmste Monat im Jahr, der Juli, die 10°C Marke überschritt und genügend Feuchtigkeit für den Boden zur Verfügung stand, konnten sich die ersten Wälder etablieren. Die Buchen schafften es, während der nacheiszeitlichen Klimaerwärmung mit 20 km pro Jahrhundert nach Norden zu wandern.

Vor etwa 6.000 Jahren wurde dann der Mensch zum größten Landschaftsgestalter, indem er die bestehenden Urwälder radikal und systematisch abholzte.

Durch seinen immensen Holzbedarf verschwand das ausgeklügelte Ökosystem Wald. Die verbleibenden Waldbestände wurden später mit schnellwachsenden Fichten und Kiefern wiederaufgeforstet. Dadurch ist das heutige Ökosystem Wald nachhaltig gestört, weil es mit untypischen und standortfremden Baumarten durchsetzt ist. Alle heutigen Waldgebiete Deutschlands sind sämtlich Nutzwälder und gleichen eher Plantagen. Selbst die natürlich aussehenden Baumbestände der Mischwälder in den wenigen Nationalparks entsprechen nicht mehr dem ursprünglichen Bild des Urwalds.

Desto großartiger ist es, wenn kleine Waldareale dem Zugriff durch den Menschen langfristig entzogen und sich selbst überlassen werden, oder auch schlicht nur in Vergessenheit geraten. Dann entstehen langsam wieder naturnahe Lebensräume für eine Vielzahl von Waldbewohnern, von Eulen über Dachse bis hin zu den Wölfen. Der Wald erweckt dann wieder den Eindruck von Natürlichkeit und Urwüchsigkeit. Solche Kraftplätze der Natur sind selten in Deutschland aber es gibt sie vereinzelt wieder. Dieser kleine Wald im Norden Deutschlands gehört zu diesen magischen Orten, an denen man den Eindruck bekommt inmitten eines Urwaldes zu stehen. Der Holzkreis auf dieser Lichtung inmitten dieses Waldes ist ein Ritualplatz, an dem sich Menschen regelmäßig mit der Natur verbinden und die Liebe zum Planeten zelebrieren.

Ich entdeckte diesen Platz auf meinen Wanderungen durch die Wälder im allerletzten Licht eines Herbstabends. Die untergehende Sonne berührte gerade den Horizont und schickte ihre tiefroten Strahlen für wenige Minuten tief in den Wald hinein. Der ohnehin schon bunt verfärbte Herbstwald leuchtete für einen Moment lang intensiv auf. Der Eindruck dieses Augenblicks war so überwältigend, dass er mich in die Zeit der Jäger und Sammler zurückversetze. Ganz ähnlich muss es überall in Mitteleuropa ausgesehen haben, als die Wälder sich die eiszeitlichen Tundren zurückeroberten und die Menschen ihre Rituale in diesen Wäldern abhielten.

November 2020
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