Wie ein Fluss aus Eis kriecht der Fieschergletscher in den Schweizer Alpen langsam, aber unaufhaltsam, in S-Kurvenform der Schwerkraft folgend talwärts. Eingerahmt von tafelig verwitterten Granitplatten, vom Frost aufgesprengt wie die aufgeschlagenen Seiten eines uralten Buches der Erdgeschichte, unter einem dräuenden Gewitterhimmel in den letzten Farben des Tages, bevor die Nacht anbricht.
Mit rund 14 Kilometern Länge ist der Fieschergletscher der zweitlängste Gletscher der Alpen. Sein Nährgebiet liegt auf über 4000 Metern Höhe am Fiescherhorn des Finsteraarhorn-Massivs und reicht bis zu seinem markanten, kurvenreichen Zungenende in der Fiescherschlucht auf etwa 1700 Meter Höhe. Mit dem, von uns Menschen verursachten Klimawandel, ist er, dem Schicksal aller weltweiten Gletscher folgend, beschleunigt am Abschmelzen. So verliert er jährlich über 50 Meter an Länge; weitaus dramatischer jedoch ist das vertikale Zusammenschmelzen: Es beträgt inzwischen zwei bis drei Metern pro Jahr. Sichtbar ist dieser massive Volumenverlust des Eises an den hellgrauen Felswänden entlang seiner Seiten, die den Höchststand um das Jahr 1850 markieren.
Die V-förmig daliegenden Gesteine im Vordergrund sind kontinentale Granite und Gneise, die so charakteristisch und formgebend für diese Landschaft sind. Auf ihnen wachsen grüne und schwarze Landkartenflechten der Gattung Rhizocarpon – uralte Lebensgemeinschaften aus Pilzen und Algen. Auf dem nackten Fels beginnen sie mit der stillen Arbeit des Lebens. Mit ihren Säuren ätzen sie winzige Spuren in das Gestein, lösen Mineralien heraus, die sie zum Wachsen brauchen – und hinterlassen dabei organische Substanzen. So bereiten sie, Millimeter für Millimeter und Jahr für Jahr, den Boden für alle Pionierpflanzen, die nach ihnen kommen werden. Um im Bild des aufgeschlagenen Buches zu bleiben: Sie bilden gewissermaßen die erste Zeile im langen Kapitel der Vegetation.
Der Gletscher, der Fels, die Flechten – sie erzählen gemeinsam eine Geschichte von Zeit, Wandel und dem unaufhaltsamen Wirken der Elemente und des Lebendigen. Die Folgen unseres tiefen Eingriffs in die Natur sind Mahnung und Einladung zugleich: genauer hinzusehen und zu verstehen – bevor sich die Seiten dieses Buches für immer schließen.