Wunderwerk Winter

Wie ein verwunschenes Gemälde liegt der tief verschneite Oeschinensee in den Schweizer Alpen in tiefer Stille und gläsern in seinem mächtigen Kessel. Der erste Schnee des Spätherbsts hat in der Nacht zuvor die Landschaft mit einer 50 Zentimeter tiefen weißen Decke überzogen – doch der See selbst ist noch eisfrei. Durch diese seltene Konstellation spiegelt seine dunkle Oberfläche die schneebedeckten, über 3600 Meter hohen Gipfel in berührender Klarheit: das majestätische Blüemlisalphorn, das Fründenhorn, das Doldenhorn und das wuchtige Oeschinenhorn. Die letzten Sonnenstrahlen des kurzen Tages glühen flüchtig an den Gipfeln, bevor sich mit dem aufkommenden Nebel die Dunkelheit über das Tal senkt.

Die ungewöhnliche Tiefe des Kessels, in dem der 56 Meter tiefe Oeschinensee liegt, ist kein Zufall, sondern das Ergebnis einer jahrtausendelangen Wechselwirkung gewaltiger Naturkräfte. Der See ruht in einer eiszeitlich ausgeschürften Mulde – ein Relikt der letzten großen Eiszeit. Während der Kälteperioden schob sich ein mächtiger Gletscher vom Blüemlisalpmassiv talwärts, schleifte das Gestein unter sich, mahlte, hobelte, riss – und schuf so den markanten Kessel mit seinen steilen, beinahe amphitheaterartigen Wänden.

Als sich das Eis am Ende der letzten Eiszeit zurückzog, löste sich vom gegenüberliegenden Hang ein gewaltiger Felssturz. Das abrutschende Gestein verschloss den Talausgang wie ein natürlicher Damm – und staut seither das Wasser zum Oeschinensee auf. Doch auch nach dem Rückzug der Talgletscher kam das Werk der Erosion nicht zum Stillstand. Frostsprengung, Schmelzwasser, hangabwärts kriechende Gesteinsmassen – sie arbeiten weiter an dieser Landschaft, formen Felskanten und übersteilte Wände. So wurde aus einem vergletscherten Hochtal mit natürlicher Barriere ein einzigartiges Becken: ein stilles Herz inmitten schroffer Gipfel und zugleich Ausdruck einer langen, ungestümen Erdgeschichte.

Dieser Ort ist eine geologische Schatzkammer aus der Zeit der Dinosaurier. Die Berge bestehen aus ozeanischen Sedimentgesteinen, die einst am Boden des längst aus dem Gedächtnis der Erde verschwundenen Tethys-Ozeans abgelagert wurden. Die Erinnerung an diesen weltumspannenden tropischen Ozean, der vor Leben nur so wimmelte, ist hier bewahrt.

Der beschwerliche Weg hierher führte vier Stunden lang durch tiefen Schnee und steiles Gelände. Als die kurze Dämmerung hereinbrach, bildete sich dichter Nebel über dem See und drang wie lautloser Atem tief in den finsteren Wald hinein. Der Rückweg wurde zum Blindgang – das Licht der Stirnlampe verlor sich im Streulicht des Nebels und wurde dadurch unbrauchbar. Meine Fußspuren des Hinwegs waren längst zugeschneit. Nur das Rauschen des Baches wies mir den Weg talwärts, der dadurch doppelt so lange benötige wie der Hinweg.

Genau dies ist der mir so wichtige Teil der Naturerfahrung: die Kälte, die Dunkelheit, das Gefühl, klein zu sein in einer großen, stillen Welt—und doch ein Teil von ihr sein zu dürfen. Solche Momente sind wie Seiten in einem Buch, die so schön sind, dass man es nie zu Ende lesen möchte. Genau deswegen ruft mich die Natur immer wieder zu solchen Erlebnissen.

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