Die Buchenwälder des Kellerwald Nationalparks umgeben den Edersee bei Kassel am östlichen Rand des Rheinischen Schiefergebirges. Die Gipfelregionen erheben sich bis auf 675 m. Der Kellerwald umfasst einen der größten verbliebenen Buchenwälder in ganz Mitteleuropa. Sie entstanden als ausgedehnte Urwälder vor etwa 12.000 Jahren nach dem Ende der letzten Eiszeit und dem damit verbundenen Rückzug der Gletscher nach Norden.
Der die Bäume umgebene Nebel sowie die Fülle der herbstlich gefärbten Laubblätter auf dem Waldboden verhüllen eine noch weitaus faszinierendere geologische Geschichte dieser Region, auf die man erst stößt, wenn die Erde ein Blick in ihr Inneres gewährt indem man sich die freiliegenden Felsen genau anschaut.
Die Gesteine auf denen dieser Buchenwald wächst bildeten sich nämlich vor mehr als 380 Millionen Jahren, im Zeitalter des Devons, am Grunde eines längst verschwundenen Ozeans, in dem es vor urzeitlichen Panzerfischen, Quastenflossern und Haien nur so wimmelte. Als wäre dies nicht schon erstaunlich genug, lag Deutschland, und damit auch der Kellerwald, zu dieser Zeit weit südlich des Äquators und bildete einen tropischen Ozean mit dem klingenden Namen Rheia.
Der Rheia Ozean lag zwischen den damaligen Großkontinenten Laurussia im Norden und Gondwana im Süden. Laurussia bildete den Zusammenschluss von Nordamerika mit Baltica und Sibirien, während Gondwana das heutige Südamerika, Afrika, die Antarktis, Australien und China umfasste. Die Region des Kellerwaldes und damit auch der gesamte Norden Deutschlands gehörte im Devon zum Südrand von Laurussia und grenzte an den Rheia Ozean. Das war aber nicht immer so. Noch früher nämlich, im Silurzeitalter vor 440 Millionen Jahren, war Norddeutschland sogar ein kleiner eigenständiger Kontinent im gewaltigen Iapetus Ozean und lag fast am Südpol. Diese kleine Kontinentscholle wurde auf den Namen Avalonia getauft. Im Silur driftete Avalonia beständig nach Norden, überquerte den Äquator und kollidierte und verschmolz schließlich mit Laurussia. Im Devon grenzten die südlichen Strände von Avalonia an den Rheia Ozean.
Rheia umfasste alle ozeanischen Ökosysteme von der Tiefsee bis zu den Flachmeeren des kontinentalen Schelfs, in denen Korallenriffe und Stromatoporenriffe wuchsen. Letztere Riffbildner gehören zu den Schwämmen. Die Lebensräume dieses Ozeans boten einer Fülle von Fischarten ideale Bedingungen und so entwickelte sich im devonischen Meer eine reichhaltige und neuartige Fischfauna, die neben dem Salzwasser nun auch das Brack- und Süßwasser eroberte. Darunter waren die beeindruckend aussehenden Panzerfische, sowohl kieferlose als auch solche mit Kiefer. Ihre stabilen Außenpanzer aus Schuppen und Knochenplatten gaben ihnen ein bizarres Aussehen und schützte sie gegen Fressfeinde. Zeitgleich mit ihnen entwickelten sich bis zu acht Meter lange stromlinienförmige Nackengelenkfische sowie die Knorpelfische und damit die ersten echten Haie. Des Weiteren entwickelten sich die Knochenfische, aus denen 99% der heute lebenden Fischarten hervorgingen. Sie umfassen die Strahlenflosser, Lungenfische und Quastenflosser. Die letzteren waren Pioniere unter den Fischen, da sie den Landgang wagten und somit die Grundlage für alle Landtiere, einschließlich uns selbst, legten. Diese Vielzahl an Fischen ernährte sich von Muscheln, Schnecken und Brachiopoden. Brachiopoden sehen auf den ersten Blick wie Muscheln aus, gehören aber zu den Armfüßern. Zudem jagten die Fische getreckte und eingerollte Ammoniten, die bodenbewohnenden Trilobiten sowie Seeigel, Seesterne, Krebse, Pfeilschwanzkrebse, Seegurken, Quallen und Schwämme. Es ist verblüffend, wie viele dieser Tierarten uns auch heute noch vertraut sind. Sie alle sind lebende Fossilien und gehören zu den erfolgreichsten Spezies überhaupt.
Zur gleichen Zeit fand die Eroberung des Festlands durch Pflanzen und die Tierwelt statt. Während Bärlappgewächse und Farne die Welt eroberten folgten ihnen die Skorpione, Spinnen, Libellen und Tausendfüßler. In den ufernahen Flachwasserbereichen des Rheia Ozeans machten Quastenflosser ihre ersten Landgänge. Das bis dahin weitgehend karge Ödland wurde erstmals grün.
Angetrieben von der Hitze im Inneren des Planeten verschiebt die Plattentektonik alle Kontinente unablässig über die Oberfläche des Planeten. Die Kontinente auf denen wir leben sind uralt und zählen nach Jahrmilliarden.
Der Grund dafür ist, dass sie bei den tektonischen Bewegungen erhalten bleiben und lediglich umarrangiert werden. Genau das Gegenteil passiert mit den Ozeanböden. Sie tauchen im erstaunlich jungen Alter von maximal 190 Millionen Jahren wieder ins Erdinnere ab, schmelzen dort auf, und werden so pausenlos recycelt. Deshalb öffnen und schließen sich durch die Erdgeschichte hinweg immer wieder ganze Ozeane. Das unterschiedliche Verhalten von Kontinenten und Ozeankruste erklärt sich dadurch, dass sie aus gänzlich verschiedenem Gestein bestehen. Kontinentaler Granit ist leichter als der vulkanische Basalt der Ozeanböden. Daher besitzen die leichteren Kontinente im Vergleich zu den schweren Ozeanböden einen größeren Auftrieb. Sie verhalten sich in der Erdkruste ganz ähnlich wie Eiswürfel im Wasser.
So verstehen wir, weshalb der Rheia Ozean bei der Annäherung von Gondwana und Laurussia im Erdinneren verschwand und schließlich die beiden Großkontinente mit diversen Kontinentsplittern zwischen ihnen im Zeitalter des Devons vor 390 Millionen Jahren und des anschließenden Karbons miteinander kollidierten. Dieser gigantische Auffahrunfall im Schneckentempo stauchte die Erdkruste enorm und stapelte sie als Deckenbau übereinander. Was hier passierte hatte globales Ausmaß und leitete den Beginn der Vereinigung aller Kontinente im Superkontinent Pangäa ein, der Allerde.
In das dadurch entstehende variszische Gebirge wurden aber nicht nur die kontinentalen Gesteine von Gondwana im Süden und Laurussia im Norden einbezogen. Alle Sedimente, die sich auf dem Boden des Rheia Ozeans im Laufe der Jahrmillionen abgelagert hatten, wurden beim Abtauchen der Ozeanplatte in das Erdinnere abgeschabt und in das entstehende Gebirge der Kontinentkollision eingefaltet. So gerieten diese Ton- und Sandsteine sowie die Kalke in den Aufstieg des Gebirges und mit ihnen die fossilen Überreste der Fischfauna und Korallenriffe samt seiner Bewohner. Aus dem Kellerwald stammen fantastisch erhaltene Fossilien der Panzerfische. Das variszische Gebirge stieg zum Hochgebirge auch, vergleichbar mit dem heutigen Himalaya. Auch dort finden sich die fossilen Überreste von Ammoniten bis in die höchsten Gipfelregionen.
Mit Beendigung des tektonischen Auffahrunfalls endete auch die variszische Gebirgsbildung. Wie bei jedem Hochgebirge entfaltete auch hier der Wasserkreislauf seine erodierende Wirkung. Schnee wurde zu Eis und bildete Gletscher, die die Bergregion zunehmend zerklüfteten und abtrugen. Seit dem Oberkarbon, vor etwa 320 Millionen Jahren, begann die Abtragung des Gebirges und mit der Zeit wurde aus einer wilden Berglandschaft die hügeligen Züge des Rheinische Schiefergebirges und des Harzes. Nach dem Ende der letzten Eiszeit wanderten die dichten Urwälder aus laubabwerfendem Mischwald dem Eis Richtung Norden folgend auch in die Region des Kellerwaldes ein.
Es ist faszinierend, sich die Landschaft des Kellerwaldes vierdimensional vorzustellen. In dieser Zeitreise gelangen wir in das Zeitalter der Panzerfische und tauchen zwischen den herbstlichen Buchen in den tropischen Rheia Ozean ab. Fast kann man das salzig warme Wasser schmecken und die Panzerfische im Nebel zwischen den Bäumen erahnen, wie sie ihrer urzeitlichen Beute hinterherjagen.